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Von Nacktpflanzen und Schuppenbäumen

Ein Streifzug durch die Entwicklungsgeschichte der Pflanzen

Im Rahmen der schrittweisen Neugestaltung der Schausammlungen des Botanischen Museums wurde die Abteilung ‚Entwicklungsgeschichte der Pflanzen‘ überarbeitet. Obwohl dieses Fachgebiet nicht zum Forschungsspektrum des Botanischen Gartens und Botanischen Museums Berlin-Dahlem gehört, ist seine adäquate Darstellung für die Vermittlung eines vollständigen Bildes der modernen Botanik unerläßlich.

Ein besonderes Anliegen dieses Teiles der Dauerausstellung ist die Vermittlung der Dimension Zeit, als einem wichtigen Faktor für die Evolution des Lebens auf der Erde. Naturgemäß geht es dabei nicht um Zeit und Zeiträume in unserem herkömmlichen Sinne, sondern um geologische Zeiträume, die sich in vielen Jahrtausenden und Jahrmillionen messen. Ein weiteres Anliegen ist die Darstellung des Evolutionsprozesses, der sich uns als ein unaufhörliches Wechselspiel von Werden und Vergehen, von Entwicklung und Stagnation, von Entstehen und Aussterben darstellt.

Schon beim Betreten des Ausstellungssaales wird der Besucher durch eine große Zeitskala darauf eingestellt, daß er sich im folgenden auf eine Zeitreise begibt, in deren Verlauf er die Entwicklung des Pflanzenreiches im Zeitraffertempo miterleben kann. Bevor er jedoch in die Tiefen der geologischen Vorzeit hinabsteigt, kann sich der Besucher zunächst in drei Schauvitrinen über die Arbeitsweise der Paläobotanik, d.h., jenes Wissenschaftszweiges, der sich mit der Entwicklungsgeschichte der Pflanzen beschäftigt, informieren. Wichtigste Untersuchungsobjekte der Paläobotanik sind die Fossilien (Petrefakten, Versteinerungen), also die in unterschiedlichen Erhaltungsformen überlieferten Reste der urzeitlichen Pflanzen, welche schon seit vielen Jahrhunderten die Aufmerksamkeit und die Phantasie des Menschen erregt haben. Die Besonderheiten des Untersuchungsgegenstandes ‚Fossil‘ bringen es mit sich, daß sich die Arbeitsweise des Paläobotanikers grundsätzlich von der des Rezentbotanikers unterscheidet. Der wichtigste Unterschied besteht wohl darin, daß der Paläobotaniker es bei seinen Untersuchungen niemals mit vollständigen Pflanzen, sondern in der Regel nur mit einzelnen Organen oder oft auch nur mit Bruchstücken von Organen (Blätter, Achsen, Wurzeln oder Früchte) zu tun hat. Um die wissenschaftliche Bearbeitung der Fossilien und die wissenschaftliche Kommunikation über diese Untersuchungsobjekte trotzdem zu ermöglichen, werden sie wie rezente Pflanzen behandelt, wie diese mit binären (doppelten) lateinischen Namen bezeichnet und nach ihrer morphologischen oder anatomischen Ähnlichkeit zu ‚Formarten‘ oder ‚Formgattungen‘ gruppiert. Das heißt, ähnliche Blattreste von karbonischen Schachtelhalmen werden z.B. in die Formgattung Annularia oder ähnliche Stammreste von karbonischen Baumfarnen werden in die Formgattung Psaronius eingeordnet. Diese notwendige und sinnvolle Verfahrensweise brachte das Problem mit sich, das die verschiedenen Organe (z.B. Blatt- oder Stammreste) der fossilen Pflanzen häufig mit unterschiedlichen Namen bezeichnet werden.

Bei einer ganzen Reihe von Fossilien ist es jedoch im Laufe der Zeit gelungen, deren Zugehörigkeit zu ein und derselben Pflanze aufzuklären. Dies war oft das Ergebnis jahrzehntelanger Forschungstätigkeit oder aber der Zufall kam insofern zu Hilfe, als Fossilien, die bislang nur isoliert bekannt waren, jetzt in ihrem organischen Zusammenhang gefunden wurden (z.B. Wurzeln mit den dazugehörgigen Achsen oder Farnblätter mit den dazugehörigen Sporangien). Als klassische Beispiele können in diesem Zusammenhang der karbonzeitliche Schuppenbaum (Lepidodendron) oder der ebenfalls aus dem Karbon stammende „Schachtelhalm-Baum“ Calamites gelten. Hier ist es durch akribische wissenschaftliche Feinarbeit gelungen, ein nahezu vollständiges Bild vom Bau und von der Lebensweise dieser ausgestorbenen Pflanzen zu rekonstruieren.

Der Rundgang durch die Entwicklungsgeschichte der Pflanzen beginnt mit einem Panoramabild, welches eine europäische Küstenlandschaft aus der Übergangzeit vom Silur zum Devon (vor ca. 400 Mio. Jahren) zeigt. Während das Festland zu dieser Zeit noch weitestgehend kahl und unbelebt war, existierte im silurisch-devonischen Urmeer bereits eine vielgestaltige Gemeinschaft tierischer und pflanzlicher Organismen. Sie hatte sich im Verlauf der bis dahin etwa 3 Milliarden Jahre währenden Entwicklung des Lebens auf der Erde herausdifferenziert. Die Lebenstätigkeit der urzeitlichen Meeresbewohner hatte zu einer allmählichen Anreicherung der Erdatmosphäre mit Sauerstoff geführt, so daß nun, an der Grenze vom Silur zum Devon, erstmalig in der Erdgeschichte die Bildung einer Ozon-Hülle möglich war. Erst dieses Schutzschild gegen die lebensfeindliche, kosmische UV-Strahlung machte die Besiedlung des Festlandes durch Pflanzen und später auch durch Tiere möglich. Die im Diorama dargestellte Pflanzengemeinschaft vereint modellhaft Vertreter dieser ersten Landpflanzen, die in verschiedenen Regionen der Erde gelebt haben.

Zwei Vertreter dieser Urlandpflanzen, die wegen ihrer einfachen, blattlosen Gestalt oft als Nacktpflanzen (Psilophyten) bezeichnet werden, zeigt die folgende Vitrine. Beide Pflanzen, Rhynia und Asteroxylon, wurden im Jahre 1917 in einem versteinerten (verkieselten) Moorboden in der Nähe des Dorfes Rhynie in Aberdeenshire (Schottland) gefunden. Die Untersuchung dieser auf den ersten Blick recht unscheinbaren Pflanzenreste sorgte bald für eine Sensation, denn man war sich sicher, endlich Vertreter der ersten Landpflanzen gefunden zu haben. Die nach ihrem Fundort benannte Rhynia gilt seither als die „Urlandpflanze“ schlechthin, und wird in jedem paläontologischen Handbuch abgehandelt.

Schon bald haben sich aus diesen ursprünglichen Vorläufern höher organisierte Formen entwickelt, die zunehmend besser an die Bedingungen des Landlebens angepaßt waren. Man geht heute davon aus, daß die Nacktpflanzen bereits im mittleren Devon, vor etwa 380 Millionen Jahren, weitestgehend durch Vorläufer der farnartigen Pflanzen, also der Bärlappe, Schachtelhalme und Farne, abgelöst wurden. Diese haben sich in der darauffolgenden Erdepoche, der Steinkohlenzeit (Karbon), geradezu explosionsartig entwickelt, ausgebreitet und ihre Blütezeit erreicht. Unter den besonderen ökologischen Bedingungen des Karbons entwickelte diese Pflanzengruppe eine nie wieder erreichte Vielfalt und Formenfülle, die von zahlreichen krautigen und kletternden Arten, über kleinere Baumfarne bis hin zu mächtigen Baumriesen reichte.

Die reiche Pflanzenwelt der karbonzeitlichen Sumpf- und Moorwälder lieferte das Ausgangsmaterial für ausgedehnte Steinkohlenlager, die in jener Zeit weltweit entstanden sind und einen der wichtigsten fossilen Brennstoffe der Gegenwart darstellen. Zugleich finden sich in den Steinkohlenschichten viele wertvolle Informationen über Pflanzen und Tiere dieser frühen Erdepoche. Aus keiner anderen Phase der Erdgeschichte liegen uns ähnlich viele, gut erhaltene Pflanzenfossilien vor. Aus der großen Vielfalt der Karbonflora wird je ein Vertreter der Bärlappe (Lepidodendron), der Schachtelhalme (Calamites), der Farne (Psaronius) und der Samenfarne (Medullosa) [Abb. 3] vorgestellt und ein Panoramabild vermittelt einen Eindruck von der Physiognomie eines karbonischen Sumpfwaldes.

Auch die tropische Artenfülle des Karbons stellte nur eine kurze Episode im Verlauf der Erdgeschichte dar. Mit tiefgreifenden geologischen Veränderungen und einem globalen Wechsel des Klimas kündigte sich im oberen Karbon und unteren Perm (vor etwa 260 bis 280 Mio. Jahren) das Ende des Farnzeitalters (Paläophytikum) und der Beginn des Zeitalters der nacktsamigen Pflanzen (Mesophytikum) an. Wichtige Ergebnisse dieser Veränderungen waren eine allgemeine Verarmung der Pflanzengemeinschaften, das weltweite Aussterben vieler altertümlicher Pflanzengruppen, wie der Samenfarne und Cordaiten, und die allmähliche Herausbildung neuer Formen, wie der Nadelbäume (Koniferen) [Abb. 1, 2], Ginkgogewächse und Cycadeen. Im Verlauf des Mesophytikums mußten sich die Pflanzen einem wiederholt wechselnden warm-trockenen bis wüstenartigem Klima und einer sich ständig verändernden Verteilung von Land und Meer anpassen und waren zeitweise auf oasen-ähnliche Vegetationsinseln und schmale Küstenstreifen zusammengedrängt [Abb. 4].

Mit dem Aussterben vieler mesophytischer Pflanzen und dem nach geologischen Maßstäben nahezu „explosionsartigen“ Auftreten der ersten bedecktsamigen Pflanzen (Angiospermen) kündigte sich dann schließlich in der Unteren Kreide (vor etwa 140 Millionen Jahren) der Beginn des jüngsten Zeitalters, des Neophytikums, an. In seiner Bedeutung für die Entwicklung des Lebens auf der Erde wird dieses Ereignis häufig mit der Besiedlung des Festlandes im Devon verglichen. Die Entwicklung der Bedecktsamer, die heute die mit Abstand artenreichste und mannigfaltigste Abteilung des Pflanzenreiches darstellen, war die notwendige Voraussetzung und die Grundlage für die Entwicklung der modernen Tierwelt. Viele Tiergruppen, wie die Insekten, die Vögel, die Säugetiere, und damit nicht zuletzt der Mensch selbst, sind in ihrer Existenz direkt von den Bedecktsamern abhängig und haben sich in einem komplexen Geflecht wechselseitiger Beziehungen (Koevolution) gemeinsam entwickelt.

Nach wiederholten globalen Klimaschwankungen und einer permanenten Klimadepression im Verlauf des Tertiärs kündigte sich zum Ende des Pliozäns (vor etwa 1,5 bis 2 Millionen Jahren) mit einer deutlichen Abkühlung das Eiszeitalter (Pleistozän) an. Im Verlauf des Pleistozäns wird Europa von insgesamt 4 Kaltzeiten (Glazialen) betroffen, die jeweils zu großflächigen Inlandvereisungen und Vergletscherungen der Hochgebirge geführt haben. In den dazwischenliegenden Warmzeiten zog sich das Eis in unterschiedlich starkem Maße zurück, so daß Tiere und Pflanzen für kurze Zeit aus ihren südeuropäischen Rückzugsgebieten in die eisfreien Gebiete vordringen konnten.

Insgesamt wurde die Rückkehr der vom Eis vertriebenen Pflanzen jedoch durch die in Europa überwiegend in ost-westlicher Richtung verlaufenden Gebirgszüge sehr erschwert. Viele Arten waren nach dem Ende der Eiszeit nicht in der Lage die lebensfeindlichen Hochgebirgskämme der Alpen und Karpaten zu überwinden und sind daher bereits vor dem massiven Eingreifen des Menschen in die Natur bei uns ausgestorben. Im Vergleich zu Nordamerika, wo die Gebirge vorwiegend in Nord-Süd-Richtung verlaufen und die Pflanzen nach der Eiszeit relativ einfach wieder in ihre angestammten Gebiete zurückkehren konnten, gilt die Flora Mitteleuropas daher als relativ artenarm. In unseren Gärten und Parks kultivierte Bäume, wie der Amberbaum (Liquidambar), die Magnolien (Magnolia) oder Sumpfzypressen (Taxodium) vermitteln uns einen ungefähren Eindruck von der Vielfalt der voreiszeitlichen Pflanzenwelt.

[Text: C. Schirarend und R. Vogt]